Carl Orff hat dem Begriff des Elementaren und der Elementaren Musik in der Musikpädagogik des 20. Jahrhunderts weltweit einen Platz gegeben, und seiner Interpretation viel Raum. Es gibt ein einschlägiges Zitat von ihm, das oft gesucht und manchmal unvollständig zitiert wird. Es lautet:
„Was ist elementar; Elementar, lateinisch elementarius, heißt ‚zu den Elementen gehörig, urstofflich, uranfänglich, anfangsmäßig‘. Was ist weiterhin elementare Musik? Elementare Musik ist nie Musik allein, sie ist mit Bewegung, Tanz und Sprache verbunden, sie ist eine Musik, die man selbst tun muss, in die man nicht als Hörer, sondern als Mitspieler einbezogen ist. Sie ist vorgeistig, kennt keine große Form, keine Architektonik, sie bringt kleine Reihenformen, Ostinati und kleine Rondoformen. Elementare Musik ist erdnah, naturhaft, körperlich, für jeden erlern- und erlebbar, dem Kinde gemäß.“ (Carl Orff, in: Das Schulwerk – Rückblick und Ausblick. In: Orff-Institut Jahrbuch 1963, Mainz 1963/1964,16)
Orff leitet seine Definition von Elementarer Musik mit der Klärung des Wortes „elementar“ ein. Er findet darin eine gänzlich ursprüngliche Qualität, ohne jede zeitliche Ausprägung − „urstofflich, uranfänglich, anfangsmäßig“ − und ohne Altersbezug. Seine Definition enthält im Weiteren fachliche Beschreibungen und vergleichende Adjektiven, die ich kurz interpretieren will:
− Erstens wird Elementare Musik in einem untrennbaren Tätigkeitszusammenhang gesehen, „mit Bewegung, Tanz und Sprache verbunden“.
− Zweitens wird sie als eine Musik zum eigenen Tun festgelegt: nicht zum Hören, sondern zum Mitspielen.
− Drittens werden dafür konkrete Materialstrukturen aufgezeigt: „kleine Reihenformen, Ostinati, kleine Rondoformen“. Wesensfremd seien ihr eine „große Form“ und „Architektonik“.
− Viertens wird sie anthropologisch begründet: Sie erscheint Orff als „naturhaft, körperlich, für jeden erlernbar, dem Kinde gemäß“. Auch das seltsame anmutende Wort „vorgeistig“ hat hier seinen Platz – im Menschen bereits verankert, bevor er sich spezielle, zeittypische geistige Ordnungen aneignet, könnte man sich hierzu hier denken.
Schon lange bevor Orff das angeführte Zitat verfasste, war in ihm seine Vorstellung von Elementarer Musik gewachsen. Seine Definition nahm er im Rahmen eines Rückblicks auf das von ihm und Gunild Keetman verfasste Schulwerk „Musik für Kinder“ vor, dessen Grundbände bereits 1950-54 erschienen waren und das schnell in andere Sprachen und Kulturen übertragen wurde. Heute hat zumindest die deutschsprachige Ausgabe keine unmittelbare praktische Bedeutung mehr; die im „Orff-Schulwerk“ niedergelegten „konkreten Materialstrukturen“ (vor allem Texte, Lieder, Melodien) sind offenbar nicht mehr zeitgemäß und werden allenfalls vereinzelt aufgegriffen. Eine Revision des (deutschsprachigen) Orff-Schulwerks fand nie statt:
Hat denn die Definition Orffs zu Elementarer Musik noch Bestand? – Ja, Orffs Weitsicht ist faszinierend und wirkt bis heute, aufs Ganze gesehen, inspirierend. Immer wieder findet man, dass der eine oder andere Bestandteil des Zitats „herausgepflückt“ und als Referenz genommen wird: so der Zusammenhang von Bewegung, Tanz, Sprache (oder auch nur Teile davon). Oder dass, mit Berufung auf Orffs pädagogisches Konzept, das eigene Mitspielen in den Mittelpunkt gestellt wird (dazu gibt es ja die sog. „Orff-Instrumente“, übrigens ein Meilenstein der musikpädagogischen Innovation). Dass Kinder schon früh zu einem eigenen alterstypischen Musizieren finden und dass dabei ihre musikalische Kreativität gefördert wird, sind grundlegende Forderungen, die nicht zuletzt auch auf Carl Orff zurückgeführt werden. Schwieriger wird es mit der Struktur der Elementaren Musik: Improvisieren über Ostinati, rondotypische Wechsel von Solo-Tutti, ebenso Pentatonik (wie in Band I des Orff-Schulwerks) u. ä. findet man zwar in der Praxis immer wieder, wohl aber nicht mehr den Plan eines konsistenten Gefüges Elementarer Musik, wie Orff es in Worten knapp beschrieb und ausführlichst in Noten ausführte.
Für das Singen, Sprechen, Instrumentalspiel, Tanzen, seit vielen Jahren auch für das Musikhören von Kindern gibt es inzwischen eine unüberschaubare Zahl von Impulsen. Ihre Quelle und oft die alleinige Legitimationsebene ist „die Praxis“. Dort bleibt vieles in seinem ideellen Ursprung unbewusst, in der Zielsetzung (wenn überhaupt) blass begründet und in der Machart schwach. Auch die Musikpädagogik ist in unserer Gesellschaft von Pluralität, breitem Angebot und Konsum bestimmt. Eine übergreifende Orientierung und Sinnstiftung versuchen Lehrpläne anzuregen; sie machen sich jedoch immer unverbindlicher! Auch Unterrichtskonzepte können eine Orientierung geben. Zeitnah müssen sie immer wieder aktualisiert werden, um sich im Marktgeschrei behaupten zu können.