Musik entfaltet sich stets in mehreren Dimensionen zugleich: melodisch mit dem Zeitverlauf der Tonhöhen, harmonisch mit deren vertikalem Zusammenspiel, rhythmisch mit der Abfolge der Tondauern und Pausen, und zudem feinst beleuchtet und schattiert von den Klangfarben der Instrumente und Stimmen. Meist ist Musik mehrstimmig: Auch dort, wo eine einzelne Stimme als Melodie unser Hören lenkt, tragen all die anderen Stimmen zu dem Eindruck, den wir von der Musik bekommen, bei. Alle sich in der Zeit entfaltenden Klänge und Klangfarben bilden zusammen die Musik, das Musikstück, um das es geht.
Wie soll man Musik hören − für das eigene Vergnügen, aber auch um der Musik gerecht zu werden? Mit dieser Fragestellung habe ich mich in pädagogischen Zusammenhängen immer wieder beschäftigt und anhand unterschiedlichster Musikbeispiele immer aufs Neue versucht, hilfreiche Tipps zu geben. Hier möchte ich eine Grundhaltung beschreiben, die sich auf viele Werke und Musikstücke, sogar weitgehend unabhängig vom Musikstil, anwenden lässt. Ich nenne sie einfach einmal das „Blickwinkel-Hören“, auch wenn diese Formulierung etwas ungelenk ist, denn eigentlich müsste es „Hörwinkel-Hören“ heißen, aber das wäre noch sperriger und sehr ungewohnt … − nein! Verschiedene Blickwinkel zu einer Sache oder auf einen Gegenstand einzunehmen ist uns aus dem praktischen Alltag vielfach vertraut: Nicht zuletzt können wir z. B. einen Raum mit all seinen Gegenständen von verschiedenen Blickwinkeln aus betrachten, von unten, von der Mitte oder auch von oben, unter dem Aspekt der Farben oder der Kontraste oder der optischen Gewichte, vielleicht auch des Geruchs usw. Ebenso kann man auch die Musik unter verschiedenen Blickwinkeln hören und dabei jedes Mal etwas anderes in ihr entdecken, was auch in ihr ist, selbst wenn man es bisher so nicht oder auch gar nicht gehört hatte. „Auf die Melodie hören“ ist nur ein Blickwinkel, wenn auch der wohl am häufigsten angewandte; ein anderer wäre also „mal nur auf die Begleitung hören“. Das kann sehr interessant sein – ausprobieren und dabei entdecken, wie geschickt und funktional hochwirksam Begleitungen „gestrickt“ sein können! Dann vielleicht diesen Blickwinkel weiter differenzieren: „nur den Bass hören“, oder in Rock und Jazz auch „nur Schlagzeug bzw. Percussion“. Im komplexen Orchestersatz kann der Blickwinkel „nur die Mittelstimmen“ ziemlich spannend sein, da tauchen plötzlich interessante Motive und Klangfarben in den Ohren auf …
Musik, sofern sie nur ein bisschen komplex ist, wird man nie „ganz“ hören können. Musik ist ein meist feingewebter Prozess, in dessen Struktur man immer nur weiter und differenzierend eindringen kann. „Das Ganze“ eines Musikstücks wird man kaum greifbar machen können, auch nicht mit den Erklärungsangeboten der Formenlehre. Denn die Form, die man für ein Musikstück feststellt, ist nur ein weiterer Blickwinkel, vergleichbar vielleicht mit dem Grundriss einer Wohnung, die erst durch Ausstattung und Möblierung und durch das Leben ihrer Bewohner zu ihrer Einzigartigkeit findet.