Eine fixe Idee von Musikpädagogen?
Selbst große Musiker beurteilen die Bedeutung von Musiktheorie manchmal zurückhaltend. Der Dirigent Leopold Stokowski sagte: Es ist nicht erforderlich, Musik zu verstehen. Man braucht sie nur zu genießen. Bedřich Smetana postulierte: Worte – die Sprache des Denkens, Musik − die Sprache des Fühlens.
Das griechische Wort Analyse bedeutet wörtlich „Auflösung in Bestandteile“. Claude Debussy warnte vor ihr: Lassen wir die Schönheit eines Kunstwerkes stets etwas Geheimnisvolles bleiben, so dass man nie genau feststellen kann, wie es gemacht ist! Bewahren wir uns um jeden Preis diese der Musik eigene Magie!
Auch für Rainer Maria Rilke war es ein Gräuel, Dinge platterdings zu benennen, er schrieb:
Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.
Die Bedingungen unserer Wahrnehmung weisen klar auf ein Musikalisch-Sein ohne Musiktheorie. Ungefähr 40% aller Nervenzellen unseres Gehirns, so schätzt man, verarbeiten eingehende Sinnesreize nach einem vordisponierten Programm. Sie entschlüsseln z. B. das Auf und Ab von Tonfolgen, das Verhältnis von Tondauern oder die Gleichheit oder Verschiedenheit von Klangfarben. Automatisch sortieren sie akustische Ereignisse nach vertraut oder neu und legen dabei musikalische Strukturen zugrunde, die wir uns durch Erfahrung erworben haben. Der Psychologe Manfred Spitzer spricht vom Sinnengedächtnis, das Strukturen des Wahrgenommenen einordnet und speichert.
Musikalisches Erleben ist also auch ein autonom funktionierendes Verarbeiten von Rhythmen, Melodien, Harmonien, Klangfarben oder Formbeziehungen. Andererseits lehren wir Kinder und Jugendliche nicht nur, Musik selbst zu spielen, sondern sehen auch das Verstehen von Musik als einen wichtigen Bildungsinhalt an. Wir gehen davon aus, dass das Wahrnehmen von Musik geleitet und verfeinert wird, wenn das Hören, Singen und Spielen mit dem Erkennen und Verstehen der Musik einhergeht, wenn sich sinnliche und geistige Erfahrung gegenseitig bereichern. Musiktheorie, so ist man sich aber weitgehend einig, soll aber unsere Begegnung mit Musik entschlüsseln und darf kein Selbstzweck sein.
Das Begreifbare an Musik
Wo überhaupt kann dieses Verstehen in der Musik ansetzen?
Jede Musik benutzt ein bestimmtes Material und hat eine bestimmte Struktur. Bei einer Melodie ist das Material zunächst eine Anzahl von Tönen, die in einer Tonleiter bzw. Tonskala vororganisiert sind, die z. B. pentatonisch, pentachordisch, diatonisch oder ganztönig sein kann. Auch bei den Tondauern gibt es ein gleichsam vorstabilisiertes Material, denn ein Großteil unserer Musik beruht seit Jahrhunderten auf Dauern, die zueinander im Verhältnis 1:2, 1:3 oder 1:4 stehen. Die Struktur bildet sich durch die Organisation des Materials in der Zeit und im Raum der Tonhöhen.
Dieser Melodie liegt als Material eine in fünf Schritten aufsteigende Reihe mit Dur-Charakter zugrunde (Pentachord). Die Melodie steht im Dreivierteltakt und benutzt drei verschiedene Notenwerte. Eine weitere Art von Material sind die schlicht gebauten Motive, die der Melodie ihr eigentliches Gesicht geben.
Musik ist jedoch immer mehr als ihr Material, das in ihr nie in seiner abstrakten Reduktion, sondern nur in spielerisch organisierter Form vorkommt, aufgehoben in der Struktur. Zu ihr müssen wir, wenn wir analysieren, in jedem Fall vorstoßen:
- Die Melodie wird in drei Teilen erlebt, der dritte ähnelt dem ersten, der zweite hebt sich davon ab. Damit wird eine kleine dreiteilige Liedform mit dem Ablauf a-b-a‘ sichtbar.
- Zwei Motive sind zu erkennen, die wiederholt (auch auf einer anderen Tonstufe) und abgewandelt (in der Tonhöhenrichtung) werden.
Musik ist aber auch mehr als das, was man an ihr faktisch beschreiben kann. Sie bewegt etwas in uns. So klein die Melodie auch ist, beim Hören entfaltet sie Kraft und Energie. Sie nimmt uns mit auf eine Reise, wir erleben dabei Anspannung oder Erregung und Ruhe. Auch dieses energetische Moment in der Musik zu erkennen und ihm im Unterricht nachzuspüren kann motivierend sein, und wenn wir dazu die Melodie singen und dabei mit den Händen zeigen, wie sie sich entwickelt.
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Im Material des Klavierstücks „Wilder Reiter“ aus dem „Album für die Jugend“ von Robert Schumann sehen wir Dreiklänge und ihren Umkehrungen, die in der Melodie sukzessiv und in der Begleitung simultan auftreten. Wir erkennen zuerst harmonisches a-Moll, dann terzverwandtes F-Dur.
Zur Struktur: Die Musik setzt sich aus einer Melodie und ihrer Begleitung zusammen. Sie gliedert sich drei Teile, die wir mit A (wird wiederholt)-B-A bezeichnen können. Die Melodie selbst hat acht Takte in der Form einer symmetrisch gebauten Periode mit dem Halbschluss in der Mitte.
Wie detailliert wir die formale Analyse mit Kindern oder Jugendlichen auch immer führen wollen und können, wir müssen auch fragen: Was bedeutet denn diese Musik? Warum schrieb Schumann sie gerade in dieser Weise? Wir müssen also die Analyse um die Frage nach dem Sinn und der Bedeutung der Musik erweitern.
Der Titel „Wilder Reiter“ gibt die Richtung vor. Schumann führt die Melodie „über Stock und Stein“, musikalisch gesehen über Dreiklänge und ihre Umkehrungen. Wir können den Charakter dieses Reiters beschreiben und damit eine persönliche Interpretation vornehmen: Galoppiert er stürmisch dahin oder macht er einen gemütlichen, genießerischen Ausritt? Was bedeuten die Dreiklänge in der Begleitung: Zügelt der Reiter hier das Pferd, das gerne losstürmen würde? Jeder junge Spieler könnte sich selbst seinen Reitertyp vorstellen und ihn dann in der Musik zu verwirklichen versuchen.
Lässt sich sogar die von Schumann gewählte Dreiteiligkeit im Sinne des Titels deuten? Ich selbst habe mir dies vorgestellt: Dieser Reiter verbleibt zunächst eine Zeit lang in seiner „Heimat“, das wäre der a-Moll-Teil, dann erkundet er ein Nachbarland, den F-Dur-Teil, am Ende reitet er wieder in seine Ausgangsregion zurück.
Altersgerechte Musiktheorie: Gedanken zur Praxis
Bereits in der Früherziehung können Kinder mit dem Erleben von Tonhöhen, Lautstärken, Rhythmen und Tempi auch ein erstes Verständnis damit verbinden. Im Unterrichtswerk „Musik und Tanz für Kinder“, das sich seit nunmehr 30 Jahren bewährt, begegnen die Kinder den rhythmischen Bausteinen der kleinen Indianer „Kluger Mond“ und „Schlaue Feder“. Sie lernen sie mit der Rhythmussprache, wie sie in der deutschen und ungarischen musikpädagogischen Tradition seit vielen Jahrzehnten erfolgreich benutzt wird und geben sich damit Signale für ein lustiges Indianerspiel: Anschleichen – Verstecken − zurück ins Dorf!
Dann bauen die Kinder die Rhythmen selbst nach. Sie schneiden Notenkärtchen aus, legen sie hintereinander und sprechen und klatschen ihre Rhythmen. Dabei erkennen sie Rhythmus als etwas, was sie selbst zusammensetzen und gestalten können.
In ähnlicher Weise erfassen die Kinder melodische Bausteine im Auf und Ab der Töne in der Motivwelt „Frosch im Haus“. Sie singen „Frosch im Haus“ − „hüpft vergnügt auf einem Bein“ − „steigt hinauf aufs Dach“ … Sie sehen die Tonhöhenverläufe im Notenbild, tupfen sie mit dem Finger nach und setzen später die Motive anhand von Notenkärtchen zu neuen Reihenfolgen zusammen. So verstehen sie, dass man Tonhöhen aufschreiben und damit selbst Melodien gestalten kann.
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Das Volkslied „Winter ade“ passt am besten in das Grundschulalter − unter welchen musiktheoretischen Gesichtspunkten? – Hier einige Möglichkeiten:
Für diese Aufgabe brauchen die Kinder Grundkenntnisse der Notenschrift, die Unterstützung durch ein Instrument wäre hilfreich.
Dieser Impuls zielt auf die Visualisierung der Analyse der Motive und ihre Unterscheidung nach gleich, ähnlich und verschieden. Nach gemeinsamer Überlegung und Begründung werden die Beziehungen der musikalischen Motive dadurch symbolisiert, dass man die Blätter farbig passend ausmalt. Auch auf Wiederholung und Veränderung der Motive kommt man zu sprechen.
Mit diesem Impuls kommt eigenes Gestalten ins Spiel. Die Töne der mittleren Zeile können aus dem Material des Liedes oder einem anderem Tonmaterial bestehen. Man tauscht sich aus und diskutiert.
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Schumanns Klavierstück „Wilder Reiter“ passt an den oberen Rand des Grundschulalters oder noch etwas später. Wieder geht es darum, das Lernen und Spielen mit der Sinn-Erfassung der Musik zu verbinden. Einführend könnte man beim Hören ansetzen und sagen:
- Die Musik hat eine Melodie und eine Begleitung. Sie erzählt etwas. Die Begleitung klingt so … (vorspielen) – wovon könnte die Begleitung erzählen? (auf „reiten“ und „ein Pferd“ lenken, dann Titel Wilder Reiter )
Ein anderer Hör-Impuls wäre dieser: Man gibt drei Melodien mit unterschiedlichem Charakter zur Auswahl, neben der Melodie von „Wilder Reiter“ zwei andere Melodien, zum Beispiel die Anfänge der Klavierstücke „Erster Verlust“ und „Melodie“, gleichfalls aus Schumanns „Album für die Jugend“:
- Welche der drei Melodien würde zum Titel „Wilder Reiter“ passen, und warum?
Nach dem Lernen des Stückes wäre noch ein Übergang zur Improvisation und Komposition möglich:
- Wir improvisieren unseren eigenen Ritt: Beginne im a-Moll-Land – erkunde das F-Dur-Land – komm wieder ins a-Moll-Land zurück. – Die Art der musikalischen Darstellung dürfte sehr, sehr frei sein.
- Komponiere ein eigenes Stück. Es kann ein Reiterstück sein, oder etwas anderes mit einer Reise, z. B.: Fische schwimmen zuerst in einem warmen Meer, dann schwimmen sie in einen kalten Fluss hinein und am Ende wieder in das warme Meer zurück.
Ich selbst bin als Schüler nie mit solchen kreativen und individualisierenden Impulsen befasst gewesen. Niemand hat mir übrigens auch gezeigt, mit musikalischem Material im technischen Üben kreativ umzugehen. Nun, das liegt Jahrzehnte zurück, und wenn man mir heute sagen würde: Das alles wird doch längst praktiziert, dann wäre ich glücklich und zufrieden.
Rudolf Nykrin
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Eine systematische Einführung in für Kinder und Jugendliche relevante musiktheoretische Themenfelder gibt die Reihe Mit Musik kenn ich mich aus mit folgenden Publikationen:
Musiklehre für Kinder
Harmonielehre ganz leicht
Rätsel – Spiele – Spaß – Musik
Instrumentenkunde für Kinder
Musikgeschichte ganz klar
Im Beitrag erwähnte didaktische Literatur:
Manfred Spitzer: Musik im Kopf.Stuttgart 2003
4. Thema „Rhythmische Bausteine“ im Lehrerkommentar zum Unterrichtswerk „Musik und Tanz für Kinder“, hg. von Rudolf Nykrin, Micaela Grüner, Manuela Widmer, Mainz 2008, S. 127ff.
10. Thema „Melodische Bausteine“, a. a. O.,S. 333ff.